„Die Zeit ist nicht auf Putins Seite“
Russlands Präsident Wladimir Putin.
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„Eigentlich“, sagt Wladimir Milow, „hätte der Kreml längst eine neue Mobilisierungswelle ankündigen müssen.“ Doch davor habe der Kreml Angst, so der russische Ökonom und Oppositionspolitiker, der im Exil lebt. Tatsächlich ist die Zahl der Toten und Verwundeten auf russischer Seite enorm. Wie hoch genau, ist geheim. Doch der Chef der russischen Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, sprach erst am Mittwoch von mehr als 20.000 toten Kämpfern seiner Truppe. Die US-Regierung hält Prigoschins Zahl für realistisch. Hinzu kommen aber noch die Verluste in der regulären russischen Armee. „Vom Leutnant bis zum Feldwebel gibt es große Engpässe, weil viele hochrangige Kommandeure auf dem Schlachtfeld getötet wurden“, sagt Milow bei einer Diskussion des Thinktanks Atlantic Council.
Putin zu Telefonat mit Bundeskanzler Scholz bereit
Russlands Präsident Wladimir Putin ist nach Kreml-Angaben zu einem neuen Telefonat mit Bundeskanzler Olaf Scholz über den Krieg in der Ukraine bereit.
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Viele der zuletzt rekrutierten Russen wurde nach kurzem Training an die Front geschickt. Etwa 80.000 der 300.000 Russen, die im Rahmen der ersten Mobilisierungswelle einberufen wurden, mussten ohne großes Training in der Ukraine kämpfen. Die übrigen wurden in völlig überlasteten Ausbildungszentren trainiert, in denen eigentlich russische Wehrpflichtige ausgebildet werden. „Das größte Problem für Putin ist die mangelnde Ausbildung der Soldaten“, sagt Milow heute. In Russland gibt es mit mehr als 140 Millionen Einwohnern zwar schier unbegrenzte Rekrutierungsmöglichkeiten für das russische Militär. Doch so einfach ist es dann doch nicht. Denn würde der Kreml eine zweite Mobilisierungswelle ausrufen, wären die neuen Soldaten erst im September ausgebildet und kampfbereit. „Also viel zu spät, um die Gegenoffensive der Ukraine abzuwehren.“
„Kreml fürchtet innenpolitische Destabilisierung“
Doch es gibt noch einen weiteren Grund, warum der Kreml vor einer zweiten Mobilmachung bisher zurückschreckt: Er fürchtet eine innenpolitische Destabilisierung. Schon bei der ersten Mobilisierungswelle waren Tausende Russen aus dem Land geflüchtet. Ökonom Milow glaubt, dass die Mobilmachung erneut mit einer Abwanderung Hunderttausender qualifizierter Arbeitskräfte aus dem Land einhergehe. „Schon jetzt ist der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften bereits ein großes Problem für die russische Wirtschaft.“ Niemand wolle, dass noch mehr Arbeitskräfte das Land verlassen.
Ohnehin glaubt der russische Oppositionspolitiker nicht, dass die zwangsrekrutierten Russen einen großen Einfluss auf den Krieg haben werden. „Die Fähigkeiten und die Moral der mobilisierten Soldaten sind so schlecht, dass es sich nicht lohnt, die Flucht so vieler Russen und eine Destabilisierung zu riskieren.“ Allenfalls aus Verzweiflung, weil die russischen Kräfte bei der ukrainischen Gegenoffensive erhebliche Verluste erleiden, sei eine Mobilisierung denkbar.
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US-Geheimdienste: Putin spielt auf Zeit
Erst vor wenigen Wochen hatte US-Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines im Senat in Washington davon gesprochen, dass der Kremlchef in der Ukraine wohl auf Zeit spiele. „Putin spekuliert höchstwahrscheinlich darauf, dass die Zeit zu seinen Gunsten arbeitet und dass die Verlängerung des Krieges, einschließlich möglicher Kampfpausen, sein bester verbleibender Weg sein könnte, um schließlich die russischen strategischen Interessen in der Ukraine zu sichern – selbst wenn dies Jahre dauern sollte“, so Haines.
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Der russische Exilpolitiker Milow glaubt nicht, dass die Taktik des Kremlchefs aufgeht. „Die Zeit ist nicht auf Putins Seite“, stellt er klar. „Seine Ressourcen sind von Tag zu Tag mehr erschöpft.“ Der Westen solle denken, es werde ein langwieriger Krieg und man brauche besser Friedensgespräche. „Fallen Sie nicht darauf herein“, warnt der Exilpolitiker.
Putin ist zu einem langen Krieg nicht fähig
Diese Einschätzung teilt auch David Kramer vom George W. Bush Institute. „Putin mag diesen Krieg verlängern wollen, aber ich glaube nicht, dass er die Mittel und die Fähigkeiten dazu hat.“ Sollten die Ukrainer mit ihrer Gegenoffensive Erfolg haben, könne das zu einer Krise im russischen Militär führen. „Das muss nicht unbedingt zu Putins Sturz führen“, räumt er jedoch ein. Putin beherrsche die totalitäre Kontrolle sehr gut. Aber er warnt davor, Russlands Fähigkeiten, den Krieg in die Länge zu ziehen, zu überschätzen.
Studien belegen, dass Diktatoren, die einen Krieg beginnen, in aller Regel nicht gestürzt werden, solange der Krieg noch andauert. Eine solche Untersuchung hat auch Andrea Kendall-Taylor vom Center for a New American Security durchgeführt. Nur 7 Prozent der autoritären Regierungschefs, die einen Krieg begonnen hatten, wurden seit 1919 auch gestürzt. „Die Fortsetzung des Krieges ist für Putin sogar von Vorteil, weil sie ihm hilft, den wachsenden innenpolitischen Herausforderungen besser zu begegnen“, erklärt die Forscherin. Für den Kremlchef sei klar, dass viele Gruppen innerhalb Russlands, wie das Militär und die Sicherheitsdienste, während des Krieges nicht in der Lage sind, ihn herauszufordern. „Aus meiner Sicht hat Putin keinen echten Anreiz, den Krieg zu beenden.“