Wie Abiaufgaben entstehen und warum es immer wieder zu Chaos kommt
Ein Schild mit der Aufschrift „Abitur! Bitte Ruhe!“ hängt während der schriftlichen Abiturprüfungen an einer Tür.
© Quelle: Hauke-Christian Dittrich/dpa
Viele Jahre lang arbeiten zahlreiche Schülerinnen und Schüler mehr oder weniger diszipliniert auf diesen einen Moment hin: die Abiturprüfung. Die Anspannung in den Tagen vor dem Prüfungstermin ist oft groß. Ärgerlich ist es, wenn trotz gründlicher Vorbereitung etwas bei der Abiprüfung schiefgeht, für das Schülerinnen und Schüler gar nichts können. So wie in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel, wo ein technisches Problem dafür sorgte, dass die Aufgaben nicht rechtzeitig heruntergeladen werden konnten. Der Prüfungstermin musste verschoben werden. In Sachsen-Anhalt wurde das Deckblatt mit den Themen der Abiturprüfung in Geschichte vorab in Chatgruppen verbreitet. Hier konnten die Prüfungen dank Reserveaufgaben trotz Panne noch am selben Tag stattfinden.
Doch wieso kommt es immer wieder zu Problemen beim Abitur? Wo werden die Aufgaben entwickelt und wie landen sie am Ende auf den Schultischen? Antworten auf diese und weitere Fragen gibt es hier.
Woher kommen die Abituraufgaben?
In vielen Bundesländern kommen die Abituraufgaben aus einem ländergemeinsamen Aufgabenpool. Seit dem Jahr 2017 stehen den Bundesländern diese Pools für die Fächer Deutsch, Englisch, Französisch und Mathematik zur Verfügung. Ab dem Prüfungsjahr 2025 soll es diese Pools auch für die Fächer Biologie, Chemie und Physik geben. Mit der Koordination der Entwicklung der Pools wurde als wissenschaftliche Einrichtung der Länder das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) beauftragt.
Verschiedene Arbeitsgruppen sind für die Entwicklung der Abiaufgaben in den einzelnen Fächern zuständig. Jedes Bundesland entsendet eine Lehrkraft für das jeweilige Fach an allgemeinbildenden Gymnasien in die Arbeitsgruppe. Zusätzlich sind auch Lehrkräfte von berufsbildenden Gymnasien vertreten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stehen den Arbeitsgruppen beratend zur Seite. Jedes Bundesland reicht Aufgabenvorschläge ein. Auf deren Basis entwickeln die ländergemeinsamen Arbeitsgruppen die Aufgaben der Pools.
Müssen die Bundesländer auf diese Aufgaben zurückgreifen?
„,Schule‘ ist Ländersache“ steht klar und deutlich auf der Website des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Deshalb entscheidet auch jedes Bundesland selbst mit einer landeseigenen Kommission darüber, welche Aufgaben der Pools verwendet werden sollen und inwiefern diese noch durch landeseigene Aufgaben ergänzt werden. Auch hier gibt es klare Regeln: „Die Aufgaben für die schriftliche Prüfung werden von der Schulaufsichtsbehörde gestellt oder genehmigt“, steht in der Vereinbarung zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe und der Abiturprüfung der Kultusministerkonferenz. Schulen können der Behörde selbst Aufgaben beziehungsweise Aufgabengruppen vorschlagen. Eingereicht werden müssen dann allerdings mehr Aufgaben, als den Schülerinnen und Schülern später in der Prüfung zur Auswahl vorgelegt werden.
Wie landen die Abiturprüfungen auf dem Tisch?
Mit detaillierten Informationen dazu, wie genau die Abituraufgaben auf dem Schultisch landen und welche Stellen und Stationen sie dabei durchlaufen, halten sich die Bildungsministerien zurück. Der Grund: Sicherheit. Man wolle vielerorts kein Risiko eingehen und den Prozess gefährden oder angreifbar machen. Zudem ist jedes Bundesland selbst für seine Abiprüfungen und deren Verteilung an die Schulen zuständig. Größtenteils funktioniert das digital. Eine Ausnahme ist Bayern. „Die Prüfungsaufgaben werden in Bayern – abgesehen von Hörbeispielen in den modernen Fremdsprachen und im Fach Musik – nicht digital, sondern in Papierform übermittelt und am Morgen des jeweiligen Prüfungstags an den Schulen geöffnet“, erklärt ein Sprecher des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus auf Anfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND).
Oft haben die Länder eigene Institute, die bei der Entwicklung der Aufgaben mitwirken. In Nordrhein-Westfalen ist die Qualitäts- und Unterstützungsagentur des Landesinstituts für Schule (Qualis) zum Beispiel nicht nur für die Entwicklung landeseigener Abituraufgaben zuständig, sondern auch für deren Verteilung an die Schulen, erklärt Andreas Bartsch, Präsident des Nordrhein-Westfälischen Lehrerverbandes. In Sachsen-Anhalt ist hingegen das Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung Sachsen-Anhalt (Lisa) für die Erstellung der Abituraufgaben zuständig. „Die Dateien werden verschlüsselt bereitgestellt und sind nur durch autorisierte Personen abrufbar“, erklärt Bildungsministerin Eva Feußner am Dienstagmittag bei einer Pressekonferenz.
Wie bewerten Schüler die Organisation der Abiturprüfungen?
„Aus Schülersicht sollte der Ablauf der Abiturprüfungen fair, transparent und objektiv gestaltet sein. Technische Probleme, unklare Prüfungsbedingungen oder falsch gestellte Aufgaben häufen sich leider zunehmend“, sagt ein Sprecher der Bundesschülerkonferenz auf Anfrage des RND. Diese Zwischenfälle sorgen bei den Lernenden für Unsicherheiten. Die Bundesschülerkonferenz fordert deshalb, den Ablauf der Abiturprüfungen sorgfältig im Vorfeld zu prüfen sei, um reibungslose Prüfungsabläufe zu ermöglichen.
Welche Schwachstellen gibt es bei der Organisation des Abiturs in Deutschland?
Man müsse die abschließende Aufklärung der Pannen abwarten, sagt Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Trotzdem seien durch die Probleme beim Abi in den beiden Bundesländern Schwachstellen deutlich geworden. „In NRW hat offensichtlich das Ministerium zu stark auf die Expertise und Kompetenz eines mit der technischen Abwicklung des Downloads von Abituraufgaben beauftragten privatwirtschaftlichen Unternehmens vertraut und es versäumt, einen Plan B in der Hinterhand zu haben, falls es Serverprobleme gibt“, kritisiert er. Zusätzlich seien die Schulen und Schüler zu spät über das Ausmaß der technischen Probleme informiert worden. „Mir tut das vor allem für die Abiturientinnen und Abiturienten leid, deren Nerven ja vor so einer wichtigen Prüfung sowieso häufig blank liegen“, sagt Meidinger.
Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands.
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„Ich glaube, dass da die Ministerien beim Qualitätsmanagement der Abiturprüfungen noch einiges nachzuarbeiten haben“, sagt er. Schließlich sei das Abitur der „krönende Abschluss einer gesamten Schullaufbahn“. Er betont außerdem, dass man trotz der Pannen der vergangenen Tage noch glimpflich davongekommen sei. „Betroffen waren nämlich nur landesspezifische Abiturprüfungsaufgaben. Wäre Englisch, Mathe, Französisch oder Deutsch betroffen gewesen, wo über den Aufgabenpool zeitgleich auch in anderen Ländern die gleichen Aufgaben verwendet werden, wäre die Katastrophe viel größer ausgefallen“, erklärt Meidinger.
Wo könnte man Verbesserungen vornehmen?
Lehrerverbandsvorsitzender Meidinger fordert, die Sicherheitsanforderungen bei der digitalen Übertragung von Abituraufgaben deutlich zu erhöhen. „Es geht dabei nicht nur um komplette Probeläufe im Vorfeld, sondern auch um umfassende, schnell greifende Alternativpläne, falls es trotzdem zu Pannen kommt. Außerdem erwarte ich eine transparente Informationspolitik, die die Betroffenen nicht fast bis zur letzten Minute über solche Vorfälle und Terminverschiebungen im Unklaren lässt“, sagt er.
„Persönlich bin ich nach wie vor ein Anhänger des Systems, wie es beispielsweise in Bayern noch praktiziert wird, wo die Abituraufgaben bereits gedruckt an Verteilerschulen geliefert werden. Da haben wir zwar in der Vergangenheit auch schon Pannen erlebt, wo beispielsweise am Tag vor der Prüfung der Schultresor aufgebrochen wurde. Allerdings ist diese Gefahr auch nicht auszuschließen, wenn die Aufgaben heruntergeladen und an der Schule ausgedruckt werden“, erklärt Meidinger. Zudem erspare die analoge Variante es den Schulen, die wichtigen Unterlagen selbst ausdrucken zu müssen. „Durch den nach Download notwendigen Ausdruck muten die Ministerien den Schulen eine enorme Zusatzbelastung zu, zumal die technische Ausstattung, was Kopierer und Drucker betrifft, häufig auch suboptimal ist“, kritisiert er.
Mehr als 300.000 Abiturienten 2022
Im vergangenen Jahr wurden an deutschen Gymnasien, integrierten Gesamtschulen, Fachgymnasien, Fachoberschulen und Berufsoberschulen insgesamt 311.804 Abiturprüfungen geschrieben. Das geht aus den vorläufig erhobenen Zahlen der Kulturministerkonferenz hervor. Erfreulich für viele Schülerinnen und Schüler: Ein Großteil von 96 Prozent bestand die Prüfung. In den Pandemiejahren verzeichneten einige Bundesländer sogar besonders gute Noten. Das sorgt nicht nur für Freude, sondern auch für Kritik. Experten befürchten eine Entwertung des Abiturs und forderten in der Vergangenheit, auch vor der Pandemie, bereits eine strengere Benotung.