30 Jahre nach Anschlag in Solingen: Verurteilte erheben massive Vorwürfe gegen Justizbeamte
Fünf Frauen und Mädchen verbrannten und erstickten vor 30 Jahren in dem Haus in Solingen (Archivbild).
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Solingen. 30 Jahre nach dem rassistischen Brandanschlag in Solingen, bei dem fünf Menschen getötet wurden, haben sich drei der vier Verurteilten in einem Statement zu der Tat geäußert. Ihr damaliger Rechtsanwalt veröffentlichte am Donnerstagmorgen drei ausführlichen Stellungnahmen, in dem die Männer ihre Unschuld beteuerten. Sie liegen dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) vor. „Den Angehörigen der Opfer dieses schrecklichen Verbrechens möchte ich nochmals mitteilen: Wir drei sind nicht die Mörder Ihrer Angehörigen“, schrieb einer der Verurteilten.
Am 29. Mai 1993 hatten Rechtsextreme das Haus der Familie in Solingen in Brand gesetzt. Das Ehepaar Genç verlor bei dem rassistischen Brandanschlag zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte. 17 Familienmitglieder waren schwer verletzt worden.
„Keine Worte können ausdrücken, was Sie durchleiden mussten und noch immer durchleiden“, hieß es in der Erklärung weiter. Der Mann beteuere seine Unschuld seit 30 Jahren. Er wende sich an die Öffentlichkeit, weil er nicht länger schweigen wolle. „Es gab in meiner Jugend eine Phase, in der ich eine rechte Einstellung hatte. Ich war ausländerfeindlich eingestellt und äußerte Parolen, die absolut scheiße, verletzend und falsch waren“, schrieb der Verurteilte. Das mache einen Menschen nicht zu einem Brandstifter und Mörder.
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Verurteilter beklagt „unzulässige Vernehmungsmethoden“
In seinem dreiseitigen Statement versucht der Mann, seine Unschuld mit angeblichen Ermittlungsfehlern zu beweisen. Das Geständnis von einem Mitverurteilten, das dieser damals zunächst machte und später widerrief, sei durch „unzulässige Vernehmungsmethoden und einem nicht protokollierten ‚Vorgespräch‘ zustande gekommen.“
Am 13. Oktober 1995 wurden die vier Angeklagten vom Oberlandesgerichts Düsseldorf verurteilt. Ein 24-Jähriger wurde wegen fünffachen Mordes, 14-fachen Mordversuches und besonders schwerer Brandstiftung mit einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren bestraft. Die drei weiteren jungen Männer, ein beim Urteil 22-Jähriger, ein 19-Jähriger und der Verfasser des Briefes, damals 18 Jahre alt, erhielten jeweils die höchste Jugendstrafe von zehn Jahren Freiheitsstrafe. Nach Revisionen wurde das Urteil 1997 vom Bundesgerichtshof bestätigt. Inzwischen sind alle vier aus der Haft entlassen worden.
Eine Gerichtszeichnung vom 28. April 1994 zeigt die vier angeklagten jungen Männer (obere Reihe), die später verurteilt wurden.
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Weiterer Verurteilter: Reuebrief an Familie entsprach nicht der Wahrheit
„Es ist wichtig, dass man den Opfern dieser furchtbaren Tat gedenkt. Sie haben das Schrecklichste erlitten, und niemand kann sich wirklich in ihr Leid hineinversetzen“, beginnt ein weiterer Verurteilter, der damals 24 Jahre alt war, seine Stellungnahme. Aber auch er hält an seiner Unschuld fest: „Es ist aber auch so, dass für diese furchtbare Tat drei Menschen zu Unrecht verurteilt wurden, und man diesem Unrecht heutzutage keine Aufmerksamkeit mehr schenkt.“
Er habe ein falsches Geständnis abgelegt, weil er „der Situation nach der Verhaftung und den Verhören nicht gewachsen“ war. „Ich habe den Überblick verloren und wusste nicht mehr, wie es weitergeht. Gegen den Druck der mich vernehmenden Beamten, etwas zu gestehen, was ich nicht begangen habe, konnte ich mich nicht wehren“, schrieb er weiter. Dass man ihm nicht glaube, könne er nachvollziehen.
Der Verurteilte entschuldigte sich bei zwei Frauen der Familie Genç, denen er im Januar 1994 einen Reuebrief geschickt habe, in dem er schrieb, dass „die richtigen Täter sitzen“ würden. „Was ich in diesem Brief geschrieben habe, entsprach nicht der Wahrheit. Von anwaltlicher Seite ist mir geraten worden, diesen Reuebrief zu schreiben in der Hoffnung, dass ich damit eine mildere Strafe bekommen würde. Ich betone noch einmal: Ich habe den Brandanschlag nicht begangen.“
Dritter Verurteilter: Beamter habe ihn zum Suizid aufgefordert
Auch ein dritter verurteilter Mann äußerte sich nun öffentlich. Auch nach 30 Jahren schwöre er, dass er „mit dem Solinger Brandanschlag nicht das Geringste zu tun habe und weder aktiv noch passiv daran beteiligt gewesen“ sei.
Der Mann erhebt in seiner Erklärung schwere Vorwürfe gegenüber den Ermittelnden. Er sei bei seinen Vernehmungen unter anderem als „feiges Schwein, das in der Nacht friedlich schlafende Frauen und unschuldige, kleine Kinder verbrennt“, als „Nazi“, „Kindermörder“ und „Unmensch“ beschimpft worden. Außerdem schilderte er eine Situation, in der ein Beamter eine Waffe auf den Tisch gelegt und ihn zum Suizid aufgefordert haben soll.
Mevlüde Genç (rechts) und ihre Enkelin Özlem Genç (links) nehmen 25 Jahre nach dem Brandanschlag an einem Gebet teil.
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Özlem Genç: „Wir dürfen nicht aufhören, zu erinnern“
Özlem Genç, Teil der Opferfamilie, sagte Anfang Mai auf einer Veranstaltungen der Landesregierung Nordrhein-Westfalens: „Wir dürfen nicht aufhören zu erinnern. Es darf nicht in Vergessenheit geraten, was meiner Familie und all den anderen Opfern rechter Gewalt angetan wurde. Der Schmerz begleitet uns immer.“ Auch in den Überlebenden sei etwas gestorben, führte sie aus. „Dennoch haben wir in unsere Herzen nicht Hass eingeschnürt. Wir kämpfen für Frieden und Versöhnung.“
Özdemir über Solinger Anschlag: Mein Vater schaute nach Feuerlöscher
Auch Bundesagrarminister Cem Özdemir (Grüne) erinnerte sich an den Solinger Brandanschlag. Nach seiner Schilderung sei die Tat ein tiefer Einschnitt im Zusammenleben gewesen und habe auch seine eigene Familie zutiefst verunsichert. „Es war eine große Zäsur, weil das nicht der erste schreckliche Anlass dieser Art war. Davor hatte es schon eine Menge rechtsradikaler Anschläge gegeben, etwa in Hoyerswerda, Lichtenhagen, Mölln und schließlich in Solingen“, sagte Özdemir der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (Donnerstag) in einem Interview auf die Frage, inwieweit der Brandanschlag in Solingen die türkische Gemeinschaft in Deutschland verändert hat.
Bundesagrarminister Cem Özdemir (Grüne).
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„Meine Eltern wollten danach, dass ich mich öffentlich zurückhalte, damit ich nicht selber zur Zielscheibe werde. Sie haben sich überlegt, ob man sich eine Strickleiter zulegt“, schilderte Özdemir und fügte hinzu: „Mein Vater hat immer geguckt, ob der Feuerlöscher noch funktioniert. Das waren Zustände, die man sich gar nicht vorstellen kann.“ Die Lichterketten nach dem Anschlag waren nach seinen Worten „wahnsinnig wichtig als Signal, dass es eine klare Mehrheit in Deutschland gibt, die das verurteilt. Die nicht wartet, bis die damalige Bundesregierung aufwacht und Maßnahmen ergreift.“
Auf die Frage, was sich seitdem in Deutschland verbessert hat, verwies der Grünen-Politiker auf seinen eigenen Werdegang. „Sie sehen beispielsweise einen Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland vor sich, dessen Vorfahren nicht schon in der Schlacht am Teutoburger Wald gegen die Römer gekämpft haben, sondern woanders herkommen“, sagte Özdemir. In der Politik machten heute nicht mehr Migranten Migrationspolitik, sondern kümmerten sich um Klimapolitik, um Sozialpolitik oder eben um Ernährung und Landwirtschaft und Politikerinnen und Politiker ohne Migrationsgeschichte um Migrationsthemen. „Das ist genau das, worum es mir immer ging. Die Mehrheit der Migrantinnen und Migranten hat ein großes Zutrauen in den Rechtsstaat und weiß, dass die Mehrheit in diesem Land nichts mit Rechtsradikalismus am Hut hat“, erklärte er.
RND/nis/dpa