„Ich hatte ein gutes Leben“
Stechender Blick: Udo Kier hat in mehr als 200 Filmproduktionen mitgewirkt.
© Quelle: Splendid
Schon sein erster Tag auf dieser Erde war dramatisch: Fünf Stunden war Udo Kier alt, da wurden seine Mutter und er am 14. Oktober 1944 in Köln bei einem Bombenangriff verschüttet. Das Kriegskind Udo wuchs in Armut auf – und legte später eine doppelte Karriere in Hollywood und in Europa hin. Der Schauspieler drehte genauso mit Andy Warhol wie mit Gus van Sant, mit Rainer Werner Fassbinder wie mit Christoph Schlingensief oder mit Lars von Trier. Kier – Markenzeichen: stechend blaue Augen – gilt in der Filmbranche als König exzentrischer Nebenrollen. In der Tragikomödie „Swan Song“ (Home-Entertainment-Start 25. Mai) spielt er nun einen Friseur in einem Altenheim, der noch einmal in sein altes Leben zurückkehrt.
Herr Kier, für Ältere sind Sie eine Kinolegende. Aber wie würden Sie sich einem jüngeren Publikum vorstellen?
Ich bin ganz einfach ein Schauspieler mit vielen Jahren Erfahrung. Angefangen habe ich in Deutschland mit Regisseuren wie Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders und Werner Herzog. Aber vielleicht kennen mich jüngere Leute ja vielleicht doch: aus Musikvideos mit Madonna wie „Deeper and Deeper“ und „Erotica“, die sind zeitlos. Meine Filme finden sich auch im Internet. Als ich jung war, war das komplizierter. Ich weiß noch, wie die ersten Leute mit Handys in New York herumliefen und ich dachte: Mit wem reden die da auf der Straße?
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Sie haben auf beiden Seiten des Atlantiks gedreht: Fühlen Sie sich eher Hollywood oder doch Europa verbunden?
Ich lebe seit 30 Jahren in Amerika, arbeite aber genauso gern in Berlin, wo ich vor zwei Jahren mit Nicolette Krebitz die Liebesgeschichte „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ gedreht habe. Gerade sitze ich in Los Angeles im Hotel – ich wohne in Palm Springs – und drehe mit dem deutschen Maler Albert Oehlen einen Film, in dem ich Oehlen spiele. Ich arbeite am liebsten mit Bekannten und Freunden, seit 30 Jahren mit Lars von Trier. Da ist es mir egal, ob das in den USA, Armenien oder Ungarn ist.
Wie lebt es sich heute in den USA mit einem Ex- und womöglich künftigen Präsidenten Donald Trump?
Politik verfolge ich nicht so sehr. Ob Joe Biden gewinnt oder Donald Trump? Ich weiß es nicht. Ich nehme wahr, dass die Natur sich rächt. Hier in Kalifornien sind Überschwemmungen, wo nie zuvor welche waren. Das ist alles ein großes Chaos.
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Wie haben Sie als einer von ganz wenigen Deutschen den Sprung nach Hollywood geschafft?
Ich wurde gegen Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, lebte allein mit meiner Mutter in Köln. Wir hatten kein Geld, nichts. Aus Deutschland bin ich nach England gegangen, um die Sprache zu lernen. Dort wurde ich entdeckt. Das Schauspielern habe ich bei der Arbeit gelernt. So ging es immer weiter. Ich bin ein „Lucky Man“.
Wie fand das Glück zu Ihnen?
Fassbinder zum Beispiel hatte ich schon als Teenager kennengelernt, lange bevor er als Genie gefeiert wurde. Der Produzent Paul Morrissey saß zufällig im Flugzeug neben mir, und so fand ich mich in den Andy-Warhol-Filmen „Frankenstein“ und „Dracula“ wieder. Bei der Berlinale fragte mich ein junger Mann, ob ich in seinem nächsten Film mitspielen wolle. Ich dachte, da will wieder ein Einsamer reden. Stimmte nicht: Der Mann hieß Gus van Sant und sein nächster Film „My Private Idaho“ mit Keanu Reeves und River Phoenix.
Das war Ihr Start in den USA?
Bei der Premiere wohnte ich bei einer Freundin, sie fragte mich: Wieso bleibst du nicht? Mein Rückflugticket lag auf meinem Koffer. Nach ein paar Gläsern Rotwein bin ich geblieben.
Sie haben auch mal in Los Angeles gelebt mit Blick auf den berühmten Schriftzug in den Bergen. Was bedeutet Ihnen Hollywood?
Stellen Sie sich vor: Sie kommen nach Berlin, und da steht irgendwo der Name der Stadt überlebensgroß geschrieben. Aber deshalb hatte ich mir die Wohnung nicht gesucht. Beeindruckender fand ich den Hollywood Boulevard mit den berühmten Namen auf dem Walk of Fame.
Sind Sie dort auch verewigt?
Ich habe vor drei Jahren einen Stern in Palm Springs bekommen. Der 3. Januar ist dort der Udo-Kier-Tag. In Hollywood gibt es gar keinen Platz mehr auf dem Bürgersteig, nur noch außerhalb. Da möchte ich gar nicht sein.
Jetzt sind Sie der Hauptdarsteller in der international gefeierten Tragikomödie „Swan Song“, die es aber trotzdem nicht ins deutsche Kino geschafft hat. Der Film startet direkt im Home Entertainment. Sind Sie darüber traurig?
Natürlich. Es ist ein anderes Erlebnis, einen Film auf der Leinwand zu sehen. Auf den Kinobesuch bereitet man sich vor. Es wird dunkel im Saal, man ist konzentriert. Ich habe für den Film Preise als bester Darsteller von Dublin bis Monte Carlo bekommen: Ein Friseur im Altenheim wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Solche Independent-Filme bieten größere künstlerische Freiheiten als Hollywoodgroßproduktionen wie „Armageddon“ oder „Blade“.
Beschäftigen Sie sich selbst mit Ihrer Vergangenheit oder leben Sie lieber in der Gegenwart?
Über neue Aufgaben freue ich mich immer. Wenn ich mit Al Pacino die Serie „Hunters“ drehen kann, dann ist das toll. Aber genauso habe ich kürzlich Madonna zu einer Feier besucht: Vor 30 Jahren war ich in ihrem Buch „Sex“ über erotische Fantasien dabei, ein Skandalwerk. Damals hat das Buch 41 Dollar gekostet, für die Neuauflage muss man 2200 zahlen.
In Ihrem aktuellen Film „Swan Song“ geht es auch um Aids. Welche Rolle hat diese Krankheit in Ihrem Leben gespielt?
Als ich in München mit Fassbinder gearbeitet habe, lernte ich Kurt Raab kennen. Er war einer der ersten Prominenten, die nicht im Verborgenen an Aids starben. Ich denke auch an Peter Chatel, ebenfalls ein Fassbinder-Schauspieler. Heute ist Aids Gott sei Dank kein Todesurteil mehr. Damals haben die Ärzte mit Penicillin und anderem experimentiert, und die Leute starben trotzdem. Das war immer ein Schock, wenn man wieder von einem Aidstoten hörte.
Der Friseur in Ihrem Film ist auch ein Dragkünstler und taucht mit einem Kronleuchter auf der Bühne auf. Lieben Sie das Verkleiden immer noch so sehr?
Das ist eine Grundbedingung meines Berufs! Auch dann, wenn ich zum Beispiel Adolf Hitler spiele, so wie in „Hunters“. Das war allerdings jetzt das erste Mal, dass ich Hitler ganz ernsthaft, sozusagen seriös verkörpert habe, anders als früher in Filmen von Christoph Schlingensief. Bei Schlingensief waren es Komödien mit einer Haltung wie Charlie Chaplin in „Der große Diktator“. Deshalb hatte ich mich zuvor bei „Hunters“ auch bei meinen jüdischen Freunden vergewissert, ob ich das spielen soll.
Sie sollen sich schon als Kind als Caterina Valente verkleidet haben.
Meine Mutter hatte damals einen alten Plattenspieler, aber nur eine Schallplatte, und die war von Valente. Darauf waren die Lieder „Ganz Paris träumt von der Liebe“ und „Dreh dich nicht um nach fremden Schatten“. Wenn wir Besuch hatten, bin ich mit einem Handtuch über der Schulter reingekommen und habe eine Show aufgeführt.
Trotzdem hätten Sie beinahe eine ganz andere Karriere angetreten. Als Kind waren Sie Messdiener und Chorsänger: War Pfarrer wirklich eine Alternative?
Jedenfalls bot der Priester meiner Mutter an, mich in ein Kloster zu schicken. Dann könne ich dort Abitur machen und mir überlegen, ob ich Priester werden wolle. Da hat aber mein Großvater Widerspruch eingelegt: Seid ihr verrückt? Schaut euch den Jungen mal an, den könnt ihr doch nicht hinter Klostermauern sperren.
Hätte Sie der Beruf des Malers interessiert?
Ich bin in Köln groß geworden. In Kneipen habe ich Künstler wie Sigmar Polke oder Gerhard Richter kennengelernt. Mich hat die Freiheit eines Malers fasziniert. Beim Film braucht es ein Drehbuch, Technik, Kostüme. Als Maler brauchst du nur Papier. Immerhin habe ich in meinem Haus in Palm Springs eine Lederjacke von Andy Warhol an der Wand hängen, die er für mich bemalt hat.
Haben Sie ein Lebensrezept für junge Leute parat?
Ein Rezept? Eher nicht. Jeder hat andere Ideen vom Glück. Ich bin nun 79 Jahre alt, hatte ein gutes Leben und habe es immer noch. Irgendwann kommt sicher der Moment, in dem ich sage: Jetzt reicht es mit dem Arbeiten. Keine Ahnung, wann. Noch ist es nicht so weit.